Ein Buch entsteht:
"Der verstopfte Ofen"
Die Geschichte des Zillemarkt
Wenn man eine Geschichte erzählen will, ist zunächst einmal
die Frage offen, wo fange ich überhaupt an.
Gehe ich zurück bis zum Urschleim, bis zu Adam und Eva,
bis zum Ende der letzten Eiszeit oder gehe ich zurück zu dem
Zeitpunkt an dem die ganze Geschichte für mich begann?
Weil, Zeit ist eine immerwährende Gegenwart.
Mitten in der Nacht wurde ich von Schüssen auf der Straße, aus
dem Schlaf gerissen. Krieg? Nein das konnte nicht sein, ich
habe ja „die Gnade der späten Geburt“.
Ich war gerade in die Bleibtreustraße 42, in die 3. Etage
eingezogen.
Wenn ich aus dem Fenster schaute, sah ich gegenüber die
Straßenecke Bleibtreustraße/Niebuhr Straße. Da befand sich ein
kleines Kino, das Kino „Filmkunst 66“.
Ein Flachbau der auf einem Trümmergrundstück von Willi
Schreiber errichtet wurde, im Jahre 1951.
Jetzt aber wird das Jahr 1970 geschrieben.
Am 27. Juni 1970 trug sich in der Bleibtreustraße die erste
Straßenschlacht mit Schusswaffen, nach dem 2. Weltkrieg, in
West-Berlin zu: Eine deutsche Zuhälterbande überfiel eine
iranische mit Revolvern und Maschinenpistolen.
Dadurch wurde die Bleibtreustraße bekannt, durch diese
gewaltsame Auseinandersetzung zwischen Angehörigen
des West-Berliner Rotlichtmilieus.
Im Auftrag des Bordellunternehmers Hans Helmcke überfiel
eine bewaffnete Bande unter Führung von Klaus Speer das
Restaurant „Bukarest“ eines iranischen Zuhälters , das spätere
Café Bleibtreu.
Einer wurde tötet und drei weitere schwer verletzt.
In Anlehnung an diese Schießerei war die Bleibtreustraße im
Berliner Volksmund lange Zeit auch als „Bleistreu-
Straße“ bekannt.
Wo war ich hier nur hingeraten...
Maschinenpistolensalben krachten durch die Nacht. Der erste
Gedanke, sind die Russen in West-Berlin einmarschiert?
Anfänglich trug die Straße im Bebauungsplan der Abt. 5
lediglich die Bezeichnung Straße 12a, bis sie am 20. August
1897 nach dem Maler und Grafiker Georg Bleibtreu benannt wurde.
Die Bleibtreustraße entwickelte sich zu einer lebendigen
Traditionsstraße in der Berliner City, mit persönlichen und
originellen Kiezflair, für Berliner und für Touristen.
Und so ist es auch noch heute.
Allerdings wird die Attraktion in der Bleibtreustraße
verschwinden, der Zillemarkt.
Das „Bestattungsunternehmen“ 2021 ist die Firma „Primus Immobilien AG“.
Der Berliner Tagesspiegel berichtete am 05.06.2020 zu diesem
Thema:
„Der Berliner Projektentwickler "Primus Immobilien AG" hat das Grundstück erworben und das Architektenbüro Axthelm Rolvien mit Entwürfen für Neubauten beauftragt. „Um Angaben zur Planung zu machen, ist es noch etwas zu früh“, sagte uns Vorstandsmitglied Sebastian Fischer. Beim Bezirksamt wurde bisher kein Bauantrag gestellt. Die typischen Projekte der Primus Immobilien AG legen die Vermutung nahe, dass luxuriöse Eigentumswohnungen oder Büros entstehen sollen. Das Lokal habe bereits vor dem Grundstückserwerb seinen Betrieb eingestellt, betonte Fischer.“
Ich habe versucht noch einen Fototermin im Zillemarkt, der
am 03.05.2021 noch steht, zu bekommen. Ist aber abgelehnt
worden. Die Gründe wurden nicht geäußert.
Was bleibt, ist großes Unverständnis.
Wir waren die Erstbesitzer, die den vorderen Teil mit viel
Liebe zum Detail und mit Herzblut, über 2 Jahre lang gebaut
haben.
Gerne hätte ich noch ein paar Aufnahmen gemacht um anhand
der Bilder wieder Erinnerungen hervorzurufen.
Es geht aber auch ohne neue Fotos, wenn ich die Augen
schließe und mich in die Zeit von damals zurückversetze.
Nach dem Zweiten Weltkrieg lag Berlin in Trümmern, auch die
Bleibtreustraße 48. Das Haus Nummer 48 war natürlich auch
davon betroffen, teilweise eingestürzt und zusammen-
gebrochen.
Wer dann das Trümmergrundstück wieder genutzt hat, ist
kaum mehr festzustellen.
Allerdings erzählt eine Anekdote:
Paul Noack habe kurz nach dem Krieg den ersten, aber nicht
genehmigten, Bau in Angriff genommen.
Damals direkt am Bahndamm der S-Bahn führte wohl eine kleine
Stichstraße als Verbindung von der Knesebeckstraße zur
Bleibtreustraße, die dann keinen Nutzen mehr hatte.
Paul Noak hatte eine Mauer hochziehen lassen und ein Dach
draufgesetzt, das dann auf der Außenmauer des Hauses
Bleibtreustraße 48 einfach angesetzt wurde.
Der entstandene Raum, fast 800 Quadratmeter, wurde
jahrelang als Garage genutzt. Der ganze Boden mit Beton
ausgegossen, und mit einer kleinen Schräge versehen, damit,
wenn jemand sein Auto waschen wollte, das Wasser ablaufen
konnte.
Diese dicke Betonschicht sollte uns später noch eine Menge
Arbeit verursachen.
Aus der Garage wurde dann später der größte Trödelmarkt
Berlins, der Zillemarkt war geboren.
1971 übernahmen wir dann diesen Trödelmarkt von Heinz
Hopp, mit dem gesamten Interieur. Heinz Hopp hatte vorher einen viel
kleineren Laden in der Knesebeckstraße.
Bei der Übernahme war der Zillemarkt voll mit Trödel und
Antiquitäten:
Große Bilder, eher Plakate mit Motiven von Heinrich Zille
hingen da, unter anderem das Bild „Der verstopfte Ofen“.
Ein lebendiger Esel fristete dort sein Leben, sogar eine
funktionierende, komplett angeschlossene Kirchenorgel aus
einer abgebrochenen Kirche in Kladow.
Der ganze Laden vollgestopft mit Möbeln, Bilder,
Schaufensterpuppen, Stühle und Tische, ein alter
Zahnarztstuhl, Standuhren, Büffets und Anrichten, Schränke,
eben ein großer Irrgarten mit Omas Sachen.
Die alten Sachen von den Großeltern sind unmodern geworden,
sollten für neue, moderne Sachen Platz machen.
Und dann kam der Tag der Übernahme.
Das erste Mal die Ladenschlüssel in der Hand. Neue Schlüssel sind auch immer die Öffner zu einem anderen oder neuen Leben und so sollte es dann auch kommen.
Quietschend öffnete sich die Tür. Der Geruch von alten,
abgestandenen Sachen, Möbeln und der etwas strenge Geruch
von Heu kroch mir in die Nase. Im Halbdunkel bewegte ich
etwas – ein Esel, ein lebendiger Esel. Seine glitzernden Augen
starrten mich an. Ich starrte zurück und ging auf ihn zu,
streichelte ihn hinter seine flauschigen Ohren. Er drückte sanft
dagegen und gab ein wohliges Geräusch von sich, so, als wäre
er lange nicht so richtig beachtet wurde.
Der arme Esel durfte hier nicht bleiben, er hatte etwas bessere
verdient, als hier im Halbdunkel sein Leben zu fristen.
Im Dämmerlicht war der hintere Laden nur schemenhaft zu sehen –
bewegte sich da hinten nicht etwas.
War schon etwas gruselig.
So, aber nun erst Mal Licht machen, dann lüften.
Wo ist denn der Lichtschalter?
Gleich nach dem Eingang links, befand sich noch ein kleiner,
abgegrenzter Raum mit Vitrinen in denen sich Schmuck und
diverser Kleinkram befand und ein Schreibtisch.
Da, an der Wand, ein Lichtschalter.
Nach dem Motto: „Licht aus, Spott an“ schalte ich das Licht an.
Die Ladentür zum Lüften weit aufmachen.
Erst Mal einen Überblick verschaffen.
Als der Strom durch die Leitungen floss und in der großen Halle
das Licht anging, erklangen verschiedene mir unbekannte
Geräusche. An der Decke hingen verschiedene mechanische
Figuren: Da hing eine große Eule, die ihren Kopf hin und her
bewegte, da stand eine Schaufensterpuppe, die den Arm zum
Gruß bewegte. Die Geräusche der Mechanik von verschiedenen anderen
Figuren füllte den Raum...
Huch, alles voll, bis ganz hinten. Das meiste sieht ganz schön
alt aus und auch ganz verschiedene Stile. Da heißt es, lernen,
denn man kann ja nur einkaufen und verkaufen, was man
kennt – sollte jedenfalls so sein, um ein erfolgreiches Geschäft
zu machen.
Den Grundgedanken gibt es ja heute ganz erfolgreich im
Fernsehen und heißt: „Bares für Rares“.
Also heißt es Literatur besorgen.
Im Rathaus Charlottenburg gibt es ja eine gute Bücherei.
Was zum Beispiel ist Gründerzeit, Jugendstil oder Biedermeier,
was Thonet, Art Deco, Chippendales oder Empire…
Plötzlich klingelt das Telefon.
„Hier ist der Zillemarkt, kann ich ihnen helfen?“
„Ja hallo, wir sind gerader dabei die Wohnung von unserer Oma
aufzulösen und da sind ne Menge alter Sachen, die sie vielleicht
interessieren könnten.“
Besichtigungstermin gemacht und aufgelegt, dann der nächste
Anruf und so weiter.
Mein Cousin hatte damals, zwei Häuser weiter, einen kleinen
Antiquitätenladen mit englischen Antiquitäten. Die waren in
Berlin damals ein echter Renner, also kannte er sich mit alten
Möbeln schon aus. Der Laden hieß „Carré Antique“ mit schönen
alten Mahagonimöbeln, Schreibtischen, Sekretären, Tischen,
Stühlen und vieles mehr.
Dann kam der erste ungewöhnliche Telefonanruf.
Der Zillemarkt hatte die Telefonnummer 312 99 99 und die
Telefonseelsorge 313 99 99.
Jeder kann sich jetzt denken, was da so für Anrufe gekommen sind.
Der oder die Anrufenden weinend, schluchzend mit dünner,
leiser Stimme.
Menschen mit Liebeskummer, sogar mit Selbstmordgedanken.
Da konnte ich oft nicht gleich das Gespräch beenden, nein das
Eine oder andere Mal bin ich auf das Gespräch eingegangen und
habe versucht zu helfen.
Zwischendurch die ersten Kunden, die in den Laden kamen:
„Wir wollen uns nur Mal umsehen.“
„Suchen sie was Bestimmtes?“
„Ja, wir suchen nach einem rustikalen Tisch mit mindestens 6
Stühlen.
„Da haben wir so einiges. Wenn sie Hilfe brauchen, ich bin hier
im Büro.“
So um 1971 -1972 gab es in West-Berlin eine große
Sperrmüllaktion. Alle Haushalte durften Sachen auf die Straße
stellen, die sie nicht mehr brauchten. Zudem wurden einige
Wohnhäuser aus der Gründerzeit (1860 – 1890) restauriert.
Die Treppenhäuser wurden saniert, die alten Toiletten – eine
Treppe tiefer - abgerissen und in die einzelnen Wohnungen ein
Bad eingebaut und auch Hausfassaden erneuert…
Alte und schön verzierte Balkongitter wurden abgebaut und so
weiter.
In diesem Zusammenhang muss noch bemerkt werden: Zum
Zillemarkt, in der Bleibtreustraße 48a gehörten noch 3 S-
Bahnbögen in der Fasanenstraße 14, mit jeweils
100 Quadratmeter, dazu.
Dieser Platz, in der Fasanenstraße, direkte an der S-Bahntrasse,
hatte eine ganz eigene Atmosphäre, etwas Schrottplatz und auch
ein kleiner Trödelmarkt. Der Mitbetreiber von Schrott und Trödel
war Bruno Schimanski.
Bruno war ein Veteran aus dem 2. Weltkrieg. War sogar mit
Rommel beim Afrikafeldzug dabei. Hatte dabei eine
Kopfverletzung erlitten und eine Silberplatte am Kopf.
Die machte ihm, gerade im Sommer, wenn es warm
wurde, Probleme, weil die Platte sich minimal bewegte. Aber
Bruno war ein „Hans im Dampf in allen Gassen“, überall
bekannt und beliebt. Ja ein Symbol an Lebensfreude, mit freudig
funkelnden Augen und lebensvollen Gesichtszügen.
Bruno besaß einen großen Möbelwagen mit dem er oft für uns
die Transporte übernahm, wenn wir im Zillemarkt etwas
verkauft hatte.
Bruno war am Anfang unseres Bekanntwerdens erst Mal etwas
sauer mit mir, weil ich ihn immer gleich mit Du ansprach. Aber
es kam der Tag an dem er ein großes Problem mit seinem
Möbelwagen hatte. Die Kupplung tat es nicht mehr. Um sie
auszuwechseln muss man das Getriebe ausbauen, die neue
Kupplung einsetzen und das Getriebe wieder einbauen. Das
funktionierte aber nicht. Da konnte ich ihm helfen. Mit einigem
Aufwand ist es mir gelungen das Getriebe einzubauen.
Ab dann durfte ich Du zu ihm sagen und wir wurden langsam so
etwas wie Freunde.
Er hatte immer seinen Lebensspruch: „Selbst schlechte Zeiten
haben ihre guten Seiten.“ Ein Wahlspruch den ich für mein
Leben oft mit übernommen habe.
Aber zurück zur damaligen Sperrmüllaktion.
Jeweils nach Feierabend, so um 18.30 Uhr, haben wir uns dann
ins Auto gesetzt, um nachzusehen, was die Leute, bei der
Ersten Sperrmüllaktion in West-Berlin, so auf die Straße
geschmissen haben.
Ein Bild ist mir bis heute noch in Erinnerung:
Ein Mann, eine Axt und eine Biedermeierkommode.
Halt, stopp und Vollbremsung.
Seitenfenster runtergedreht und rausgebrüllt:
„Hallo, machen sie das nicht!“
Aber in diesem Moment hat der Mann schon ausgeholt und
zugeschlagen. Der Schlag war so stark, dass die Kommode in
zwei Hälften auseinanderfiel.
Ich stieg aus und sah mir das Zerstörungswerk an. Da war
nichts mehr zu retten.
„Watt wolln se denn, dit is doch nur een ollet Ding“, sagte der
Mann erstaunt.
„Wenn sie uns die Kommode verkauft hätten, hätten wir ihnen
300.- Mark gegeben,“ sagte ich.
„Ach Watt, wirklich?“
Aber es war zu spät!
Oft hatten die Leute keine Ahnung, was sie da vor sich hatten.
In den nächsten Tagen und Wochen kam es zu einer
regelrechten Karawane von Leuten, die Sachen verkaufen
wollten, die sie auf der Straße entdeckt hatten.
Alte Nähmaschinenuntergestelle, gedrechselte Treppentaillen
aus den erneuerten Treppenhäusern, Stühle, Tische, Kleinkram
und vieles mehr.
Aus den Nähmaschinenuntergestellen, haben wir dann später
Kneipentische gemacht. Das heißt, Gestell gesandstrahlt und
Marmorplatte oben drauf – und fertig.
Später wurden das hunderte von diesen Untergestellen, die
hatte wir dann in einem S-Bahnbogen in der Fasanenstraße
lagerten. 100 Quadratmeter, bis unter die Decke, mit diesen
Dingern.
Diese praktischen Kneipentische wurden dann bis in die
Bundesrepublik verkauft. Ich denke z.B. an das Restaurant
„Vossieks Mühle“ in Vlotho, in der Nähe von Detmold.
„Wir haben da hinten einen Tisch mit sechs Stühlen gefunden“ ,sagten meine 1. Kunden. „Aber für alles zusammen 1200,-
Mark ist ja etwas zu viele.“ „Na, da werden wir mal sehen ob ich mit dem Preis noch etwas machen kann.“ „Ja aber, der Tisch ist in sehr gutem Zustand und die Stühle frisch bezogen. Können sie einfach zuhause hinstellen und fertig,“ sagte ich. „Holen sie selber ab?“ "Ja, würden wir auch gleich mitnehmen.“
O.k., dann sage ich 1100,- Mark für alles zusammen.“
Der Kunde, „sagen wir rund 1000,- „
„1050,- Mark ist mein letztes Angebot“, sagte ich, „weiter
kann ich nicht runter gehen.“
„Gut so machen wir das“, sagte der Kunde und steckte mir seine
Hand zum Abschluss des Geschäftes entgegen.
Hurra, Hurra, die ersten Teile verkauft.
Heute allerdings zahlt man für eine Esszimmergarnitur aus der
Gründerzeit, mit großem Tisch 6 Stühlen, aus Eiche massiv
Antik um 1880 ca. 2.100,00 €.
Ganz interessant ist die Entwicklung, mit Gründerzeit
Möbeln. In den Jahren 1971 – 1973 hatten vermehrt
Amerikaner Interesse an diesen Möbeln: Schwere
Eichenbuffets, Anrichten, Schränke, Tische und Stühle und ganz
speziell, alte Berliner Standuhren.
Da gab es in Hamburg eine Spedition, „Lassen und Co“.
Die organisierten es, amerikanische Händler nach Berlin zu
holen und durch die Antiquitätenläden zu führen.
DEMNÄCHST GEHT ES WEITER....